Meine Taschen sind gepackt, es kann losgehen. Für vier Monate will ich Teile von Westeuropa bereisen, und zwar den größten Teil davon per Fahrrad. Dass das nicht ganz selbstverständlich ist, ist mir völlig bewusst. Ich darf dankbar sein, dass ich eine solche Reise noch unternehmen kann.
Vor bald 20 Jahren wurde bei mir eine neurologische Krankheit (HSP) diagnostiziert – mit progressivem Verlauf. Das Gehen bereitet mir mehr und mehr Probleme, der Neurologe hat mir aber gleich zu Beginn gesagt, ich solle viel Radfahren, das erhalte die Muskeln und halte den Rollstuhl vorläufig auf Distanz. Rad bin ich zum Glück schon immer gern gefahren, habe seither schon ein paar mehrwöchige Reisen damit unternommen. Damit ich aber weiter auf eigene Faust losziehen kann, müssen immer mehr logistische Sachen gut durchorganisiert werden. In den letzten Jahren hat sich nämlich nicht nur mein Gangbild verschlechtert, auch eine starke Blaseninkontinenz ist dazu gekommen. Die mehrfachen Behandlungen mit Botox haben die Blasenmuskulatur zwar beruhigt, aber dafür ist das natürliche Urinieren nicht mehr möglich. Mehrfach täglich muss ich die Blase mit Einwegkathetern leeren. Zu Hause, im gewohnten Umfeld, gehört das ganz normal zu meinem Tagesablauf, Katheternachschub kann ohne Probleme innerhalb von ein paar Tagen organisiert werden.
Wie soll ich das aber im Ausland machen? Der tägliche Verbrauch liegt bei vier bis sechs Stück – auf 16 Wochen gibt das eine ganze Menge. Unmöglich, die alle von Anfang an mitzunehmen. Ich brauche in meinen Packtaschen ja auch Platz für Kleider, für Zelt und Schlafsack, für die Campingküche und ein paar andere kleine Sachen. Auch darf ich die Hitze nicht außer Acht lassen. Ich bin im Sommer unterwegs und freue mich auf - hoffentlich - viele heiße Tage. Eine Kühltasche, die in eine meiner Packtaschen passt, ist hierfür die Lösung und schnell organisiert. Katheter ins Ausland mitnehmen, ist mit der ausgefüllten Zollerklärung kein Problem, nur die Menge an Kathetern ist eine Herausforderung. Zum Glück wird mir da von meinem Lebenspartner Hilfe angeboten. Er würde mich sowieso viel zu sehr vermissen während den vier Monaten, also besucht er mich ganz einfach viermal während der ganzen Tour und bringt jeweils Nachschub mit. Die Treffen sind schnell ausgemacht und – zugegeben – ich freue mich auch jetzt schon auf die Wiedersehen.
Nun bin ich definitiv soweit und bereit für die Abreise. Die ersten zwei Tage auf Schweizer Boden sind schon etwas fordernd. Zuerst das wieder daran gewöhnen mit dem bepackten Tourenrad zu fahren und dann gleich noch die Überquerung der Bergkette des Juras. Da werden die Beine schon recht gefordert, die Passstraßen sind steil, aber das Unterwegssein macht unglaublich Spaß. Bald ist die Grenze nach Frankreich überquert und ich erreiche am dritten Tag die hübsche Stadt Besançon. Da muss ich doch glatt ein erstes Pain au Chocolat mit einem leckeren Café au Lait probieren.
Die nächsten Tage folge ich der Radroute Eurovelo 6, die immer einem Wasserlauf folgt: vom Doubs, über die Saône bis zur breiten Loire. Viele Radfahrer sind auf der gut ausgeschilderten Route unterwegs. Oft treffe ich am Abend auf den Zeltplätzen wieder die gleichen Radler wie am Vortag und wir tauschen uns über die Erlebnisse des Tages aus. Unterwegs ist aber jeder in seinem eigenen Tempo und das passt für mich sehr gut so. Es bleibt einfach mal Zeit, den eigenen Gedanken nachzuhängen und dort eine Pause einzulegen, wo es für mich gerade passt.
Samstag ist immer Markttag in Frankreich und so schlüpfe ich in Nevers früh aus dem Schlafsack, um mich unter das bunte Treiben zu mischen. Es riecht nach Kräutern und Gewürzen, nach gebratenem Huhn, nach Knoblauch und dem Käsestand – es riecht ganz einfach nach Sommer in Frankreich. Zum Frühstück knuspert das frische Baguette und der Camembert zerläuft. Das Leben ist schön.
In Orléans verlasse ich die Loire und die ausgeschilderte Radroute – und leider auch das schöne sonnige Wetter. Ich suche mir kleine Landstraßen, die mich nördlich Richtung der Normandie führen. Die Landschaft streckt mir hier ihre Buckel entgegen – viele steilere Hügel gibt es zu überqueren, öfter muss ich dazu die Regenausrüstung tragen. Aber es ist alles halb so schlimm. Bald habe ich die normannische Grenze überquert, die Sträßchen werden wieder flacher und die Sonne meldet sich zurück. Und mein Partner Daniel kommt zu Besuch. Wir haben am Vorabend telefonisch vereinbart, wo und wann wir uns treffen. Ich bin natürlich viel zu früh bei der vereinbarten Kathedrale, genieße aber den Moment des freudigen Abwartens. Wir verbringen drei wunderbare Tage zusammen an der wilden Küste rund um Cherbourg. Zugegeben, ich bin dankbar, den Ausflug nach Le Mont-Saint-Michel per Auto machen zu dürfen statt per Fahrrad – ein paar Pausentage tun meinen Muskeln ganz gut.
Daniel hat sich nun bereits wieder verabschiedet und ist auf dem Rückweg Richtung Schweiz – er sollte die Strecke, für die ich in umgekehrter Richtung 14 Tage gebraucht habe, mit dem Auto in etwa 12 Stunden schaffen. Trotzdem werde ich vor ihm an meinem nächsten Ziel eintreffen – die Fähre nach Großbritannien steht schon im Hafen von Cherbourg bereit.
Daniels Besuch hat Spuren hinterlassen – die Kühltasche mit den Kathetern ist wieder prallvoll gefüllt, aber auch die Essenstasche mit Nachschub an Schokolade. Also dann, Schiff ahoi – ich melde mich wieder von den Britischen Inseln.